Tamaquito

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Tamaquito

Tamaquito ist ein Wayúu-Dorf im nordkolumbianischen Departement La Guajira. Durch den Dokumentarfilm La buena vida (dt. Das gute Leben) von Jens Schanze erreichte es sowohl in Deutschland als auch in Kolumbien mediale Aufmerksamkeit. In dem Film wird der Verdrängungs- und Umsiedlungsprozess begleitet, den die Bewohner*innen eingingen, da die Kohlemine des Konzerns El Cerrejón immer näher an das Dorf rückte. Hätte sich die Gemeinde der Umsiedlung verweigert, wäre sie durch die Mine eingekreist gewesen und hätte den Zugang zum Fluss sowie zu ihren Weiden verloren (vgl. Schüller 2016: 10). Tamaquito ist nur eines von vielen Dörfern, die dem multinationalen Konzern Cerrejón weichen mussten, aber nicht immer geschah dies einvernehmlich (vgl. ebd.). Jairo Fuentes, der Anführer der Dorfgemeinschaft, erklärte unserer Gruppe, dass die langwierigen Umsiedlungsverhandlungen von Tamaquito für Cerrejón als Vorzeigeprojekt dargestellt werden. Vertraglich stimmten beide Parteien einer Umsiedlung zu.

Umsiedlungsprozess:

Das ehemalige Tamaquito beheimatete in etwa 180 Personen, die von Ackerbau, Tierhaltung und Jagd leben konnten. Das Dorf lag in einem bewaldeten Bereich in den Bergen an der Grenze zu Venezuela und besaß ausreichend Wasserquellen (vgl. Reisser o.J.).  Die Fläche, die pro Einwohner*in zur Verfügung stand, betrug kurz vor dem Umsiedlungsprozess 10 ha, was viel zu klein ist, um wie gewohnt weiter zu leben. Seit 1980 wurden die Landflächen rund um Tamaquito von Cerrejón aufgekauft, sodass sich die Fläche, über die das Dorf verfügte, immer kleiner wurde (vgl. ebd.). Einschneidend sei auch die gewaltvolle Räumung des Nachbardorfs Tabaco gewesen, in dem sich die Schule befand, die die Kinder Tamaquitos besuchten. Der Umsiedlungsprozess von Tamaquito begann Jahre vor der Umsiedlung selbst. Bereits 1996 beobachteten die Bewohner*innen, dass die Medizinalpflanzen nicht mehr wuchsen. Laut Erzählungen der Dorfgemeinde begannen 2007 die Verhandlungen zwischen Tamaquito und Cerrejón. Anfangs sei Cerrejón nicht für Verhandlungen bereit gewesen. Stattdessen übte das Unternehmen psychischen Druck auf die Bewohner*innen aus, damit sie den Forderungen Cerrejóns zustimmen. Tamaquito führte eine sogenannte consulta autónoma durch, bei der jedes Mitglied des Dorfes befragt wurde, ob es gehen oder bleiben möchten. Jairo Fuentes nennt diese Periode „die Zeit der Organisation“ die ziemlich schwierig gewesen sei. Cerrejón kaufte in dieser Zeit die umliegenden Flächen auf, um sie auf diesem Wege zu erpressen. Tamaquito bekam Hilfe von NGOs und anderen Organisationen. Durch die internationale Unterstützung und die Dreharbeiten zu La buena vida entstand jedoch Raum für Verhandlungen. Die Einwohner*innen Tamaquitos wünschten sich für das neue Dorf einen Standort, der noch weiter in den Bergen liegt, was jedoch durch Cerrejón abgewiesen wurde (vgl. Reisser o.J.). So wurde ein Standort in der Steppenlandschaft als Tamaquito II festgelegt (vgl. ebd.). Die Bewohner*innen erwirkten ein Mitspracherecht bezüglich der Gestaltung ihrer Wohneinheiten; dies lief anders als bei den Umsiedlungsprozessen anderer Gemeinden. Die Umsiedlung selbst fand im August 2013 statt. Erst zwei Jahre später bekam die Gemeinde den Landtitel für Tamaquito II offiziell zugesprochen.

Tamaquito II:

Tamaquito II war auf unserer Exkursion der Ort, mit dem wir uns im Vorhinein anhand des Films am tiefgreifendsten beschäftigt haben. Im März 2019 lebten dort 43 Familien (201 Personen). Sie verfügen über eine Fläche von 300 ha Land. Die Fläche ist demnach deutlich größer als jene, die sie zuletzt in ihrem alten Ort offiziell zur Verfügung hatten. Der jetzige Standort liegt etwa 30 km von dem alten Standort entfernt (vgl. Reisser o.J.). Die Lebenslage für die Einwohner*innen des Dorfes hat sich radikal verändert. In den Gesprächen mit den Dorfbewohner*innen berichteten diese uns, dass sie nicht glücklich am neuen Standort seien. Im Aushandlungsprozess wurde eine Wasserversorgung seitens Cerrejóns zugesichert (vgl. Reisser o.J.). Das Unternehmen baute ein teures, europäisches Wasserversorgungssystem was jedoch lange nicht funktionierte. Es wurde uns im Gespräch bestätigt, dass die Wassermenge nicht ausreiche, um dem täglichen Bedarf nachzukommen. Noch immer stelle dies ein Problem für die Gemeinde dar. Nach der Umsiedlung kontrollierte Cerrejón selbst die Wasserqualität, sodass kein unabhängiges Gutachten möglich war. Daraufhin wollten die Bewohner*innen lernen, selbst einen Brunnen zu bauen und Wasserproben zu entnehmen, die in einem unabhängigen Labor überprüft werden. So konnte eine Verbesserung der Wasserqualität erwirkt werden. Die Abmachung, eine ausreichende Wasserversorgung bereit zu stellen, wurde aber nicht erfüllt. Laut Cerrejón, so erzählt uns Jairo Fuentes, stünden jeder Person 5 bis 8 Liter Wasser pro Tag zu, die zweimal wöchentlich in Tanks geliefert werden. Zum Vergleich: der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland liegt bei 127 Liter Wasser am Tag (2018) (vgl. Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. 2019). Bei dieser Wassermenge ist ein landwirtschaftlicher Anbau in einer Region wie La Guajira unmöglich und dies erklärt uns die Gemeinschaft sehr eindrucksvoll: „Früher waren wir reich an Gaben, die die Natur uns schenkte und wir hatten alles, was wir brauchten“. Jairo Fuentes beschreibt die Veränderung als „Wechsel von Produzenten zu Konsumenten“. Der Begriff Konsument muss noch stärker betrachtet werden. Es werden keine angemessenen Verdienstmöglichkeiten geschaffen, damit sich die Wayúu selbst unterhalten können. Dadurch entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis zu Geld im Allgemeinen und zu Cerrejón im Besonderen. Für das Unternehmen zu arbeiten lehnen die (meisten?) Bewohner*innen grundsätzlich ab, da sie die Ausbeutung der Erde durch den Kohleabbau nicht unterstützen. Deshalb initiierte die Gemeinde von Tamaquito neue Verhandlungen mit Cerrejón im Jahr 2016, um das erwähnte Abhängigkeitsverhältnis zu mindern.  Ihr Ziel sei es, vollständig autonom zu wirtschaften.

Auch die Luftverschmutzung sei ein Problem für die Gemeinde. Es wurde eine Colaflasche gezeigt, die von Weitem nicht verwunderlich aussah. Von Nahem wurde jedoch deutlich, dass es sich nicht um Cola, sondern um kontaminiertes Wasser handelte. Eine Bewohnerin aus einer benachbarten Gemeinte erzählte uns, dass es das Wasser sei, welches sie bei Regen von ihrem Dach auffing. Das veranschaulicht die angesammelte Menge an Kohlestaub auf dem Dach, der durch die Luft transportiert wird. Es ist anzunehmen, dass solche Lebensumstände die Gesundheit der Bewohner*innen negativ beeinträchtigen. Dies ist auch auf Tamaquito übertragbar. Ein Bewohner berichtete, dass sein Nachbar mit einer Lungenkrankheit im Krankenhaus liege und es nachgewiesen sei, dass diese durch den Kohlestaub verursacht wurde. Solche gesundheitlichen Risiken, die aufgrund der Nähe zur Mine in ihrem alten Dorf noch größer waren, brachten die Bewohner*innen erst dazu, den Umsiedlungsprozess einzugehen. Jairo Fuentes betont in diesem Zusammenhang häufig, dass sie nicht freiwillig umgesiedelt sind, sondern indirekt dazu gezwungen wurden, ihr altes Dorf zu verlassen.

Die optische Erscheinung des neuen Tamaquitos unterscheidet sich erheblich von der des vorherigen Dorfes, das im Dokumentarfilm gezeigt wird. Die Wohneinheiten in Tamaquito I waren größtenteils aus Lehm gebaut. Die Wohneinheiten in Tamaquito II ähneln eher westlichen Behausungen aus Beton und Stein und fallen deutlich geräumiger aus, als die traditionellen Häuser. Auch wenn sie die Häuser mitgestalten durften, heißt dies nicht, dass die Wayúu-Gemeinde sich in diesem Dorf wohlfühlt. Die Gemeinde von Tamaquito präsentiert sich als eine geschlossene Einheit, die vor allem hinter ihrem Anführer Jairo Fuentes steht. Sie erzählten uns, dass sie beobachteten, wie Cerrejón andere Gemeinschaften gespalten hat. Daraufhin organisierten sie Gespräche und gemeinsame Diskussionen, um alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Mitarbeiter*innen von Cerrejón durften nur nach vorheriger Absprache das Territorium betreten und mit der Gemeinde verhandeln. Durch diese Strategie schaffte das Unternehmen es nicht, Unruhe in die Gemeinde zu bringen. Der Zusammenhalt untereinander wurde während des gesamten Gesprächs deutlich.

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