Die Wayuu in La Guajira

Die Wayuu in La Guajira

Die Wayúu

Ina Niehus, Nina Hanning, Tabea Willhöft

Am 22.03.2019 besuchte unsere Exkursionsgruppe das Dorf Tamaquito. In der Vorbereitung auf unsere Exkursion haben wir bereits den Dokumentarfilm „La Buena Vida – Das gute Leben“ angesehen und über dessen Inhalt diskutiert. Dabei begleitet Regisseur Jens Schanze die Dorfgemeinschaft von Tamaquito, eine Wayúu-Gruppe im kolumbianischen Department La Guajira. Die Gemeinde wird von dem Kohlekonzern Cerrejón umgesiedelt. Wir wurden von den Bewohner*innen dort sehr herzlich empfangen und konnten lange mit mehreren Mitgliedern der Gemeinde sprechen und Fragen stellen. In der Dämmerung wurden wir auf dem Gelände des umgesiedelten Dorfes herumgeführt. Einen Tag später fuhren wir zu dem von einer Umleitung bedrohten Fluss Arroyo Bruno und sprachen mit an den Ufern des Flusses lebenden Bewohner*innen. In diesem Blog-Kapitel wollen wir uns thematisch der Umsiedlung Tamaquitos und den damit verbundenen Problematiken nähern. Zunächst soll es um die Geschichte der indigenen Gruppe Wayúu eingehen. Danach ordnen wir die Vertreibung der Gemeinden in La Guajira in den politischen Kontext der extraktivistischen Wirtschaftsstrukturen Kolumbiens ein.                  

Das Volk der Wayúu

Die Wayúu (auch: Wayuu) sind ein indigenes Volk, das Gebiete im heutigen Kolumbien und Venezuela besiedelt. Diese Gebiete erstrecken sich vom nordkolumbianischen Department La Guajira bis hin zu den umliegenden Arealen des Maracaibo-Sees auf Seiten Venezuelas. In der Literatur ist daher auch die Bezeichnung Guajiros als Ableitung von La Guajira für die Wayúu zu finden (vgl. Amodio & Pérez 2006: 11). Sie selbst bezeichnen sich hingegen als „Wachuküamüsükasainwanéea’laülaajoyotüsüspünalu’uka’ikatspülaskujai njatüinsukuwaipasumüinwachonyuuéeantüinskal’uuka’kat“ (Montaño Salas 2017: 165). Laut Montaño Salas (ebd. 166) lässt sich die in der indigenen Sprache Wayuunaiki verfassten Definition wie folgt übersetzen:

„Them [sic!] Wayuu are people of sand, sun and wind, carry in the moral of the desert, have resisted during centuries in the peninsula of the Guajira, are large craftsmen [sic!], and merchants, fighters tireless by the rights historical [sic!], that have been very violated by the discrimination and the racism”.

Traditionellerweise werden solche Informationen verbal von der älteren an die jüngere Generation überliefert (vgl. ebd.), da die Sprache neben der Schrift als das wichtigste Medium der Kommunikation in der Wayúu-Kultur gilt. Seit 1992 ist Wayuunaiki als eine der Amtssprachen von La Guajira anerkannt (vgl. Polo Figueroa 2017; 46f). Der oben aufgeführten Definition nach Montaño Salas ist zu entnehmen, dass sich die Wayúu als Menschen des Sandes, der Sonne und des Windes identifizieren. Durch die Selbstbezeichnung der Wayúu ist eine mentale Verbundenheit zwischen dem Wayúu-Volk und ihrer natürlichen Umwelt zu erkennen. Jene Verbundenheit ist auch in der Gestaltung ihrer Wohneinheiten zu erkennen: die Fassaden der Wände und die Dächer sind in Farben gestaltet, die so auch in der Natur La Guajiras zu finden sind, wie beispielsweise Erd- und Blautöne. Daher ist das Territorium der Wayúu optisch nicht bewusst von der natürlichen Umwelt abgegrenzt, sondern vielmehr an diese angepasst.

Jairo Fuentes, Anführer (governador indígena) der Wayúu-Gemeinde Tamaquito, verweist darauf, dass es in ihrer Kultur einen Unterschied zwischen den Begriffen Territorium und Land gebe: demnach hat der Begriff Territorium einen eher administrativen Charakter und beschreibt die geographischen Gebiete, in denen die Wayúu leben. Dies mag zunächst sehr nüchtern klingen, jedoch legitimiert der Besitz eines Landtitels über ein bestimmtes Territorium die weitestgehende Selbstbestimmung der Wayúu auf diesem Gebiet. Somit ist ihr Territorium ein integraler Faktor zur Aufrechterhaltung ihrer Lebensweise. Der Begriff Land hat dagegen eine kulturelle Komponente, weil er mit der Kosmologie um die Mutter Erde verknüpft ist. Das Volk der Wayúu erkennt in ihr ein Element, welches das Fortbestehen ihrer Gemeinschaften sichert. Die dort wachsenden Pflanzen und die nahegelegenen Wasservorkommen ernähren die Mitglieder der Gemeinden und das schon seitdem sich die Gemeinden dort angesiedelt haben. Eine wichtige Funktion haben zudem spirituell konnotierte Räume, wie zum Beispiel Jepira. Jepira beschreibt einen Raum, an dem sich die Seelen verstorbener Wayúu aufhalten. Stirbt ein Mitglied der Gemeinde, kommt es zur Trennung von Körper und Geist. Während der Körper verstirbt, lebt die Seele, die sogenannte aa’in, als nicht-menschliches Wesen weiter. Sie wird zu einem yoluja, einem Geist des verstorbenen Mitglieds und gelangt zu den anderen Wayúu-Seelen im Jepira (vgl. Paz Reverol 2017: 279). So wird bspw. den nordkolumbianischen Gebirgen namens Sierra Nevada de Santa Marta und la Serranía del Perijá innerhalb des Wayúu-Territoriums ein hoher kultureller Wert zugeschrieben, da die Wayúu sie mit der Reise in den Jepira verbinden. Diese Orte sind die letzten Etappen, die der Geist einer verstorbenen Wayúu-Person besucht, bevor sie sich schließlich auf den Meeresgrund begeben, auch genannt Tierra de los guajiros muertos (dt. Land der verstorbenen Guajiros) (vgl. Mincultura 2017: 3f).

Ein weiterer Faktor, über den sich die Wayúu definieren, ist ihre Geschichte. In der Definition nach Montaño Salas werden historische Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus beschrieben, denen die Wayúu ausgesetzt waren. An dieser Stelle sollte jedoch angemerkt werden, dass die Geschichte der Wayúu nicht ausschließlich negativ konnotiert ist. Gemäß Mincultura (vgl. ebd. 5f) gibt es relativ wenig Quellen, die die Situation der Wayúu zu Kolonialzeiten wiedergeben, mit Ausnahmen spanischer Chroniken. Daher mag die Fokussierung auf negative historische Ereignisse in der Definition einer eher eurozentristischen Wahrnehmung zugrunde liegen.Prägende Ereignisse sollen vor allem immer wiederkehrende Dispute zwischen den Wayúu und den Europäer*innen um die indigenen Territorien gewesen sein. Gerade ab den sechziger Jahren – während des bewaffneten Konfliktes in Kolumbien – leistete das Volk der Wayúu Widerstand. Ihre Art von Widerstand manifestiert sich dabei vor allem in der Ausdauer sowie des kollektiven Zusammenhalts des Volkes (vgl. Archila & García 2014: 26f). Obwohl die Kultur der Wayúu über einen konstanten Zeitraum mit der starken europäischen Präsenz in Kolumbien und den Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes konfrontiert war, wird sie bis heute zelebriert. Somit ist die Selbstbezeichnung als Kämpfer*innen für ihre Kultur in Montaño Salas‘ Definition durchaus angemessen. Archila & García schlussfolgern: „[…] los indígenas de Colombia […] no son víctimas pasivas de la violencia en su contra […]” (ebd. 26) (dt. Die Indigenen Kolumbiens sind keine passiven Opfer der Gewalt, die sich gegen sie richtet).

Abb.1. In Tamaquito. Eigene Aufnahme.

Tamaquito

Tamaquito ist ein Wayúu-Dorf im nordkolumbianischen Departement La Guajira. Durch den Dokumentarfilm La buena vida (dt. Das gute Leben) von Jens Schanze erreichte es sowohl in Deutschland als auch in Kolumbien mediale Aufmerksamkeit. In dem Film wird der Verdrängungs- und Umsiedlungsprozess begleitet, den die Bewohner*innen eingingen, da die Kohlemine des Konzerns El Cerrejón immer näher an das Dorf rückte. Hätte sich die Gemeinde der Umsiedlung verweigert, wäre sie durch die Mine eingekreist gewesen und hätte den Zugang zum Fluss sowie zu ihren Weiden verloren (vgl. Schüller 2016: 10). Tamaquito ist nur eines von vielen Dörfern, die dem multinationalen Konzern Cerrejón weichen mussten, aber nicht immer geschah dies einvernehmlich (vgl. ebd.). Jairo Fuentes, der Anführer der Dorfgemeinschaft, erklärte unserer Gruppe, dass die langwierigen Umsiedlungsverhandlungen von Tamaquito für Cerrejón als Vorzeigeprojekt dargestellt werden. Vertraglich stimmten beide Parteien einer Umsiedlung zu.

Umsiedlungsprozess

Das ehemalige Tamaquito beheimatete in etwa 180 Personen,
die von Ackerbau, Tierhaltung und Jagd leben konnten. Das Dorf lag in einem bewaldeten Bereich in den Bergen an der Grenze zu Venezuela und besaß ausreichend Wasserquellen (vgl. Reisser o.J.).  Die Fläche, die pro Einwohner*in zur Verfügung stand, betrug kurz vor dem Umsiedlungsprozess 10 ha, was viel zu klein ist, um wie gewohnt weiter zu leben. Seit 1980 wurden die Landflächen rund um Tamaquito von Cerrejón aufgekauft, sodass sich die Fläche, über die das Dorf verfügte, immer kleiner wurde (vgl. ebd.). Einschneidend sei auch die gewaltvolle Räumung des Nachbardorfs Tabaco gewesen, in dem sich die Schule befand, die die Kinder Tamaquitos besuchten. Der Umsiedlungsprozess von Tamaquito begann Jahre vor der Umsiedlung selbst. Bereits 1996 beobachteten die Bewohner*innen, dass die Medizinalpflanzen nicht mehr wuchsen. Laut Erzählungen der Dorfgemeinde begannen 2007 die Verhandlungen zwischen Tamaquito und Cerrejón. Anfangs sei Cerrejón nicht für Verhandlungen bereit gewesen. Stattdessen übte das Unternehmen psychischen Druck auf die Bewohner*innen aus, damit sie den Forderungen Cerrejóns zustimmen. Tamaquito führte eine sogenannte consulta autónoma durch, bei der jedes Mitglied des Dorfes befragt wurde, ob es gehen oder bleiben möchten. Jairo Fuentes nennt diese Periode „die Zeit der Organisation“ die ziemlich schwierig gewesen sei. Cerrejón kaufte in dieser Zeit die umliegenden Flächen auf, um sie auf diesem Wege zu erpressen. Tamaquito bekam Hilfe von NGOs und anderen Organisationen. Durch die internationale Unterstützung und die Dreharbeiten zu La buena vida entstand jedoch Raum für Verhandlungen. Die Einwohner*innen Tamaquitos wünschten sich für das neue Dorf einen Standort, der noch weiter in den Bergen liegt, was jedoch durch Cerrejón abgewiesen wurde (vgl. Reisser o.J.). So wurde ein Standort in der Steppenlandschaft als Tamaquito II festgelegt (vgl. ebd.). Die Bewohner*innen erwirkten ein Mitspracherecht bezüglich der Gestaltung ihrer Wohneinheiten; dies lief anders als bei den Umsiedlungsprozessen anderer Gemeinden. Die Umsiedlung selbst fand im August 2013 statt. Erst zwei Jahre später bekam die Gemeinde den Landtitel für Tamaquito II offiziell zugesprochen.

Tamaquito II:

Tamaquito II war auf unserer Exkursion der Ort, mit dem wir uns im Vorhinein anhand des Films am tiefgreifendsten beschäftigt haben. Im März 2019 lebten dort 43 Familien (201 Personen). Sie verfügen über eine Fläche von 300 ha Land. Die Fläche ist demnach deutlich größer als jene, die sie zuletzt in ihrem alten Ort offiziell zur Verfügung hatten. Der jetzige Standort liegt etwa 30 km von dem alten Standort entfernt (vgl. Reisser o.J.). Die Lebenslage für die Einwohner*innen des Dorfes hat sich radikal verändert. In den Gesprächen mit den Dorfbewohner*innen berichteten diese uns, dass sie nicht glücklich am neuen Standort seien. Im Aushandlungsprozess wurde eine Wasserversorgung seitens Cerrejóns zugesichert (vgl. Reisser o.J.). Das Unternehmen baute ein teures, europäisches Wasserversorgungssystem was jedoch lange nicht funktionierte. Es wurde uns im Gespräch bestätigt, dass die Wassermenge nicht ausreiche, um dem täglichen Bedarf nachzukommen. Noch immer stelle dies ein Problem für die Gemeinde dar. Nach der Umsiedlung kontrollierte Cerrejón selbst die Wasserqualität, sodass kein unabhängiges Gutachten möglich war. Daraufhin wollten die Bewohner*innen lernen, selbst einen Brunnen zu bauen und Wasserproben zu entnehmen, die in einem unabhängigen Labor überprüft werden. So konnte eine Verbesserung der Wasserqualität erwirkt werden. Die Abmachung, eine ausreichende Wasserversorgung bereit zu stellen, wurde aber nicht erfüllt. Laut Cerrejón, so erzählt uns Jairo Fuentes, stünden jeder Person 5 bis 8 Liter Wasser pro Tag zu, die zweimal wöchentlich in Tanks geliefert werden. Zum Vergleich: der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland liegt bei 127 Liter Wasser am Tag (2018) (vgl. Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. 2019). Bei dieser Wassermenge ist ein landwirtschaftlicher Anbau in einer Region wie La Guajira unmöglich und dies erklärt uns die Gemeinschaft sehr eindrucksvoll: „Früher waren wir reich an Gaben, die die Natur uns schenkte und wir hatten alles, was wir brauchten“. Jairo Fuentes beschreibt die Veränderung als „Wechsel von Produzenten zu Konsumenten“. Der Begriff Konsument muss noch stärker betrachtet werden. Es werden keine angemessenen Verdienstmöglichkeiten geschaffen, damit sich die Wayúu selbst unterhalten können. Dadurch entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis zu Geld im Allgemeinen und zu Cerrejón im Besonderen. Für das Unternehmen zu arbeiten lehnen die (meisten?) Bewohner*innen grundsätzlich ab, da sie die Ausbeutung der Erde durch den Kohleabbau nicht unterstützen. Deshalb initiierte die Gemeinde von Tamaquito neue Verhandlungen mit Cerrejón im Jahr 2016, um das erwähnte Abhängigkeitsverhältnis zu mindern.  Ihr Ziel sei es, vollständig autonom zu wirtschaften.

Auch die Luftverschmutzung sei ein Problem für die Gemeinde. Es wurde eine Colaflasche gezeigt, die von Weitem nicht verwunderlich aussah. Von Nahem wurde jedoch deutlich, dass es sich nicht um Cola, sondern um kontaminiertes Wasser handelte. Eine Bewohnerin aus einer benachbarten Gemeinte erzählte uns, dass es das Wasser sei, welches sie bei Regen von ihrem Dach auffing. Das veranschaulicht die angesammelte Menge an Kohlestaub auf dem Dach, der durch die Luft transportiert wird. Es ist anzunehmen, dass solche Lebensumstände die Gesundheit der Bewohner*innen negativ beeinträchtigen. Dies ist auch auf Tamaquito übertragbar. Ein Bewohner berichtete, dass sein Nachbar mit einer Lungenkrankheit im Krankenhaus liege und es nachgewiesen sei, dass diese durch den Kohlestaub verursacht wurde. Solche gesundheitlichen Risiken, die aufgrund der Nähe zur Mine in ihrem alten Dorf noch größer waren, brachten die Bewohner*innen erst dazu, den Umsiedlungsprozess einzugehen. Jairo Fuentes betont in diesem Zusammenhang häufig, dass sie nicht freiwillig umgesiedelt sind, sondern indirekt dazu gezwungen wurden, ihr altes Dorf zu verlassen.

Die optische Erscheinung des neuen Tamaquitos unterscheidet sich erheblich von der des vorherigen Dorfes, das im Dokumentarfilm gezeigt wird. Die Wohneinheiten in Tamaquito I waren größtenteils aus Lehm gebaut. Die Wohneinheiten in Tamaquito II ähneln eher westlichen Behausungen aus Beton und Stein und fallen deutlich geräumiger aus, als die traditionellen Häuser. Auch wenn sie die Häuser mitgestalten durften, heißt dies nicht, dass die Wayúu-Gemeinde sich in diesem Dorf wohlfühlt. Die Gemeinde von Tamaquito präsentiert sich als eine geschlossene Einheit, die vor allem hinter ihrem Anführer Jairo Fuentes steht. Sie erzählten uns, dass sie beobachteten, wie Cerrejón andere Gemeinschaften gespalten hat. Daraufhin organisierten sie Gespräche und gemeinsame Diskussionen, um alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Mitarbeiter*innen von Cerrejón durften nur nach vorheriger Absprache das Territorium betreten und mit der Gemeinde verhandeln. Durch diese Strategie schaffte das Unternehmen es nicht, Unruhe in die Gemeinde zu bringen. Der Zusammenhalt untereinander wurde während des gesamten Gesprächs deutlich.

Umleitung des Arrojo Bruno

Tamaquito ist jedoch nicht die einzige Wayúu-Gemeinde in La Guajira, die vom Kohleabbau betroffen ist. Im Jahr 2011 veröffentlichte das Unternehmen Cerrejón das Vorhaben, den Fluss Ranchería um 26,2 Kilometer umzuleiten. Dies würde Cerrejón ermöglichen, weitere 500 Millionen Tonnen Kohle zu fördern, welche unter dem Bachbett liegen (vgl. Censat Agua Viva y Sintracarbón: 14f). Aber auch der Arroyo Bruno, ein Nebenfluss des Rancherías, sollte planmäßig um zunächst 3,6 Kilometer verlegt werden. Allerdings ist eine Verlegung des Bachlaufs um weitere 9, 3 Kilometer bis 2020 in Planung (vgl. Contagio Radio 2016). Für die dort lebenden Wayúu würde dies eine enorme Einschränkung ihrer Lebens- und Wirtschaftsweise bedeuten, da der Fluss die einzige lokale Wasserquelle darstellt. Durch die Umleitung wären die Wayúu größtenteils vom Fluss abgetrennt und sehen sich dadurch in ihrer Existenz bedroht. Der Vorsteher einer dieser Wayúu-Gemeinden berichtet, dass Mitarbeiter*innen von Cerrejón versuchten, die Familien zu indoktrinieren. Armut ist ein großes Problem in der Region, daher wurde vielen Familien Geld als Entschädigung geboten. Obwohl sich die Wayúu bis dato nicht als eine arme Gemeinschaft identifizierten, suggerierte Cerrejón den Familien, dass sie genau dies seien, und eine Expansion der Kohleförderung den Reichtum der Region immens steigern würde. Aufgrund des Drucks seitens Cerrejóns bewilligten somit einige der Familien schließlich die Umleitung des Flusses, wodurch sich auch die sozialen Dynamiken innerhalb der Gemeinden veränderten. Früher seien alle ansässigen Familien freundschaftlich verbunden gewesen, doch die geplante Umleitung des Flusses spaltete die Gemeinden. Eine solidarische und harmonische Dorfgemeinschaft existiere demnach nicht mehr. Deutlich wird in dem Gespräch mit der Gemeinde vor allem eines: die am Flusslauf verbliebenen Wayúu fühlen sich von Cerrejón betrogen. Von dem prognostizierten Reichtum sei in der Region nichts zu merken, die Situation habe sich eher verschlechtert. In der Tat finanziert Cerrejón einige kleinere, lokale Projekte, welche die Wayúu unterstützen sollen. Allerdings werden diese von der Gemeinde als Almosen aufgefasst und als nicht wirkungsvoll eingeschätzt. Der Vorsteher versucht regelmäßig, in den Prozess der Umleitung involviert zu werden und bezüglich der Zusammenarbeit eine Besserung zu erzielen. Er fordere beispielsweise mehr Transparenz und Ehrlichkeit im Umgang mit den Gemeinden. Die Familien sollten nicht durch finanzielle Mittel bestochen oder durch Ausübung von psychischem Druck zu einer Entscheidung gezwungen werden. Es sei fraglich, wie sinnvoll eine Befragung der regionalen Bevölkerung ist, wenn – wie im Fall der geplanten Umleitung des Arroyo Bruno – Baumaßnahmen bereits abgeschlossen wurden. Außerdem solle die Öffentlichkeit für die ökologischen und sozialen Folgen der Umleitung sensibilisiert und angemessene Entschädigungen bereitgestellt werden. Einer derartigen Zusammenarbeit wurde seitens des Unternehmens noch nicht zugestimmt.

Abb.2: Fluss Arrojo Bruno. Eigene Aufnahme
Abb.3. Neben dem Fluss. eigene Aufnahme

 

Exktraktivismus in Kolumbien

Die Umsiedlungen lokaler Gemeinden fallen in das Muster einer rohstoffabhängigen Politik, deren Auswirkungen sich im gesamten Land unter anderem in Landkonflikten manifestieren. Aufgrund der fortschreitenden Expansion der Steinkohlemine mussten in La Guajira schon zahlreiche Menschen ihr Zuhause verlassen. Jairo Fuentes klagt sowohl den Staat als auch das Bergbau-Unternehmen Cerrejón für die Enteignungen in La Guajira an: Der kolumbianische Staat habe Fortschritt für die Region La Guajira versprochen und erlaubt, dass Kohle abgebaut werden darf. Daher trage der Staat Mitschuld an den Geschehnissen. Auch Cerrejón habe seine Versprechen nicht eingehalten, Tagebau zu betreiben, ohne die Umwelt dabei zu schaden. Nun, so Jairo Fuentes, führen sie ein unerträgliches Leben.

Dabei sollen Minderheiten, die offiziell als indigen oder afrokolumbianisch anerkannt sind, vom kolumbianischen Staat geschützt werden. Im Jahr 1991 ratifizierte Kolumbien die ILO-Konvention 169, welche die Unterzeichnerstaaten dazu verpflichtet, indigenen Völkern (ein Recht auf ihr Land und ihre Ressourcen zu gewährleisten (Art.13-19). Kolumbien nahm den Schutz von Minderheiten in das nationale Gesetz auf (Ley No.21). Dieses besagt, dass kollektives Land nicht an multinationale Akteure verkauft werden darf (vgl. Bangert 2005; Rathgeber 2019). Dennoch sind Minderheiten in Kolumbien häufig von Landraub betroffen. Das Ley No.685 der kolumbianischen Verfassung begünstigt Vorhaben von Bergbau-Unternehmen wie Cerrejón: seit Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 2001 unterliegen Bodenschätze der Verfügungsgewalt des Staates. Die nationale Regierung vergibt Konzessionen an Unternehmen, welche diese berechtigen, gegen steuerliche Abgaben Rohstoffe in bestimmten Gebieten zu fördern. Artikel 37 dieses Gesetzes zeigt die zentralistischen Züge der kolumbianischen Wirtschaftspolitik. Es verbietet lokalen Regierungen ein Mitspracherecht über die Nutzung der Bodenschätze (vgl. Dietz 2017: 7f; Lambert 2015: 3). Für multinationale Unternehmen wie Cerrejón sind derartige rechtliche Voraussetzungen von großem Vorteil. 1977 begann das Unternehmen Steinkohle in La Guajira zu fördern (vgl. Cerrejón 2019). Inzwischen befindet sich dort der größte Steinkohletagebau Lateinamerikas mit einer Gesamtfläche von 69.000 ha. Pro Jahr produziert Cerrejón um die 33 Millionen Tonnen Steinkohle, von denen 90 % exportiert werden (vgl. BankTrack 2019; Ganswind, Rötters & Schücking 2013: 12).

Auch Deutschland bezieht Steinkohle aus Kolumbien. Zwar wurde mit der Schließung der letzten Zeche Ende 2018 der Abbau von Steinkohle in Deutschland beendet, eingesetzt wird diese aber trotzdem, da der gesamte Strombedarf in Deutschland noch nicht ausschließlich von erneuerbaren Energien gedeckt werden kann (vgl. Bahner 2018). Noch im Jahr 2017 wurden 17 % der Bruttostromerzeugung durch Steinkohle generiert, so beliefen sich die Steinkohleimporte in diesem Jahr auf 48 Millionen Tonnen. Kolumbien war 2018 mit Australien, Indonesien, Russland, den USA und Kanada unter den größten Steinkohlenexportländern weltweit. (vgl. Verein der Kohleimporteure e.V. 2019: 36f.). Auf eine exportorientierte Entwicklung zielt die Wirtschaftspolitik Kolumbiens mit ihren investorenfreundlichen Gesetzgebungen und sehr milden Umweltauflagen ab. Während der Amtszeit des Präsidenten Álvaro Uribe Vélez (2002-2010) stieg die Zahl der vergebenen Konzessionen von 1.900 auf 7.774 an. Unter seinem Nachfolger Juan Manuel Santos (2010-2018) zielte die Agrar- und Wirtschaftspolitik weiterhin auf Export ab. Santos bezeichnet den Abbau und Export von Ressourcen als einen wichtigen Wirtschaftsmotor. Die locomotiva minera soll Entwicklungsprozesse in ruralen Regionen anstoßen und den nationalen Wohlstand steigern. Doch trotz hoher staatlicher Einnahmen aus dem Bergbausektor, zeigt sich in den Regionen mit Bergbauprojekten, wie La Guajira, keine Reduzierung von Armut (vgl. Dietz 2017: 363ff). Der intensive, ausschließlich exportorientierte Abbau meist nicht erneuerbarer, natürlicher Rohstoffe prägt die wirtschaftliche Struktur vieler Staaten Lateinamerikas und ist unter dem Begriff Extraktivismus bekannt. Svampa (2012: S. 14) definiert Extraktivismus als „jenes Akkumulationsmodell […], das auf einer übermäßigen Ausbeutung immer knapper werdender, meist nicht erneuerbarer, natürlicher Ressourcen beruht, sowie auf der Ausdehnung dieses Prozesses auch auf Territorien, die bislang als ‘unproduktiv‘ galten”.

Neben Bergbau zählen zu den extraktivistischen Sektoren nach Gudnyas (2011: 70) außerdem die Kohlenwasserstoffe (Gas und Öl) sowie, wenn der Begriff weiter ausgedehnt wird, Exportmonokulturen. Innerhalb eines extraktivistischen Wirtschaftsmodells werden attraktive Rahmenbedingungen für internationale Unternehmen geschaffen, um Auslandskapital anzuziehen. Schließlich profitiert die Regierung von den Abgaben der Unternehmen. Der Gewinn soll gleichmäßig auf die Bevölkerung verteilt werden. Extraktivistisch geprägte Regierungen sehen das Wirtschaftswachstum meist als Entwicklungsmotor an (ebd.). Das auf Rohstoffabhängigkeit basierende Entwicklungsmodell ist voller Spannungen und Widersprüche: Mit der Rohstoffausbeutung gehen immer irreparable Umweltschäden und negative soziale Folgen einher, wie sie auch Jairo Fuentes in La Guajira anklagt. Bevölkerungsgruppen werden durch Landraub von ihren Territorien vertrieben, ihre Lebensgrundlage wird zerstört. Indem ein Zusammenhang zwischen Armutsbekämpfung und Rohstoffabbau hergestellt wird, soll der Rohstoffabbau legitimiert werden (vgl. Matthes 2012: 15, Gudynas 2012: 46). Durch eine Exportorientierung gliedern sich extraktivistisch orientierte Staaten außerdem in die globalisierte Weltwirtschaft ein. Somit wird eine Abhängigkeit der exportorientierten Staaten von der globalen Nachfrage geschaffen. Außerdem sind Exportwirtschaften abhängig von der kontinuierlichen Extraktion von Ressourcen, die jedoch endlich sind. Diese Abhängigkeiten werden besonders dadurch verstärkt, dass extraktivistische Regierungen meist wenig Interesse an einer Diversifizierung der nationalen Ökonomie sowie deren Industrie- und Dienstleistungsgrundlage kundtun (vgl. Gudynas 2011: 72f.).

Bereits vor der Kolonialisierung wurde der Ressourcenreichtum Lateinamerikas genutzt. Mit der Kolonialisierung änderte sich jedoch das Ausmaß der Nutzung hin zu einer Ausbeutung der Ressourcen, von der in erster Linie lokale Eliten und externe Akteuren profitierten. Die Rolle Lateinamerikas innerhalb der internationalen Arbeitsteilung als Rohstofflieferant für Europa änderte sich auch nicht mit der Unabhängigkeit in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts (vgl. Lander 2014: 3). Extraktivistische Entwicklungsmodelle fördern neo-koloniale Strukturen, da sie Staaten in untergeordnete Positionen des Weltwirtschaftssystems bringen (vgl. Gudynas 2012: 50). Koloniale Herrschaftsverhältnisse bleiben so weiterhin bestehen. Die investorenfreundliche Politik führt zu einer Re-Kolonialisierung der lokalen Gemeinden und der Natur durch multinationale Unternehmen. Zu beachten ist jedoch, dass der Extraktivismus zwar von lokalen Regierungen ausgeht, jedoch durch die weltweit steigende Nachfrage nach Rohstoffen angetrieben und gesteuert wird. Letztendlich wäre er ohne die „imperiale Lebensweise“ der Wohlstands- und Konsumgesellschaften undenkbar (vgl. Brand, Wissen 2017: 13f.).

Nach unseren Besuchen bei den vertriebenen Gemeinden Tamaquito und Roche sowie der Besichtigung des Tagebaus von Cerrejón blieben in unserer Exkursionsgruppe viele unbeantwortete Fragen: Kann es überhaupt einen fairen, gerechten Steinkohlehandel und einen guten Extraktivismus geben? Wie kann sich ein Land wie Kolumbien aus globalen Abhängigkeiten und von kolonialen Herrschaftsverhältnissen befreien? Inwiefern leben wir eine imperiale Lebensweise und welche Alternativen haben wir?

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis:

Abb.1.: Eigene Aufnahme
Abb.2.: Eigene Aufnahme
Abb.3.: Eigene Aufnahme