Extraktivismus in Kolumbien

Extraktivismus in Kolumbien

Extraktivismus in Kolumbien

Die Umsiedlungen lokaler Gemeinden fallen in das Muster einer rohstoffabhängigen Politik, deren Auswirkungen sich im gesamten Land unter anderem in Landkonflikten manifestieren. Aufgrund der fortschreitenden Expansion der Steinkohlemine mussten in La Guajira schon zahlreiche Menschen ihr Zuhause verlassen. Jairo Fuentes klagt sowohl den Staat als auch das Bergbau-Unternehmen Cerrejón für die Enteignungen in La Guajira an: Der kolumbianische Staat habe Fortschritt für die Region La Guajira versprochen und erlaubt, dass Kohle abgebaut werden darf. Daher trage der Staat Mitschuld an den Geschehnissen. Auch Cerrejón habe seine Versprechen nicht eingehalten, Tagebau zu betreiben, ohne die Umwelt dabei zu schaden. Nun, so Jairo Fuentes, führen sie ein unerträgliches Leben. Dabei sollen Minderheiten, die offiziell als indigen oder afrokolumbianisch anerkannt sind, vom kolumbianischen Staat geschützt werden. Im Jahr 1991 ratifizierte Kolumbien die ILO-Konvention 169, welche die Unterzeichnerstaaten dazu verpflichtet, indigenen Völkern (ein Recht auf ihr Land und ihre Ressourcen zu gewährleisten (Art.13-19). Kolumbien nahm den Schutz von Minderheiten in das nationale Gesetz auf (Ley No.21). Dieses besagt, dass kollektives Land nicht an multinationale Akteure verkauft werden darf (vgl. Bangert 2005; Rathgeber 2019). Dennoch sind Minderheiten in Kolumbien häufig von Landraub betroffen. Das Ley No.685 der kolumbianischen Verfassung begünstigt Vorhaben von Bergbau-Unternehmen wie Cerrejón: seit Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 2001 unterliegen Bodenschätze der Verfügungsgewalt des Staates. Die nationale Regierung vergibt Konzessionen an Unternehmen, welche diese berechtigen, gegen steuerliche Abgaben Rohstoffe in bestimmten Gebieten zu fördern. Artikel 37 dieses Gesetzes zeigt die zentralistischen Züge der kolumbianischen Wirtschaftspolitik. Es verbietet lokalen Regierungen ein Mitspracherecht über die Nutzung der Bodenschätze (vgl. Dietz 2017: 7f; Lambert 2015: 3). Für multinationale Unternehmen wie Cerrejón sind derartige rechtliche Voraussetzungen von großem Vorteil. 1977 begann das Unternehmen Steinkohle in La Guajira zu fördern (vgl. Cerrejón 2019). Inzwischen befindet sich dort der größte Steinkohletagebau Lateinamerikas mit einer Gesamtfläche von 69.000 ha. Pro Jahr produziert Cerrejón um die 33 Millionen Tonnen Steinkohle, von denen 90 % exportiert werden (vgl. BankTrack 2019; Ganswind, Rötters & Schücking 2013: 12).

Auch Deutschland bezieht Steinkohle aus Kolumbien. Zwar wurde mit der Schließung der letzten Zeche Ende 2018 der Abbau von Steinkohle in Deutschland beendet, eingesetzt wird diese aber trotzdem, da der gesamte Strombedarf in Deutschland noch nicht ausschließlich von erneuerbaren Energien gedeckt werden kann (vgl. Bahner 2018). Noch im Jahr 2017 wurden 17 % der Bruttostromerzeugung durch Steinkohle generiert, so beliefen sich die Steinkohleimporte in diesem Jahr auf 48 Millionen Tonnen. Kolumbien war 2018 mit Australien, Indonesien, Russland, den USA und Kanada unter den größten Steinkohlenexportländern weltweit. (vgl. Verein der Kohleimporteure e.V. 2019: 36f.). Auf eine exportorientierte Entwicklung zielt die Wirtschaftspolitik Kolumbiens mit ihren investorenfreundlichen Gesetzgebungen und sehr milden Umweltauflagen ab. Während der Amtszeit des Präsidenten Álvaro Uribe Vélez (2002-2010) stieg die Zahl der vergebenen Konzessionen von 1.900 auf 7.774 an. Unter seinem Nachfolger Juan Manuel Santos (2010-2018) zielte die Agrar- und Wirtschaftspolitik weiterhin auf Export ab. Santos bezeichnet den Abbau und Export von Ressourcen als einen wichtigen Wirtschaftsmotor. Die locomotiva minera soll Entwicklungsprozesse in ruralen Regionen anstoßen und den nationalen Wohlstand steigern. Doch trotz hoher staatlicher Einnahmen aus dem Bergbausektor, zeigt sich in den Regionen mit Bergbauprojekten, wie La Guajira, keine Reduzierung von Armut (vgl. Dietz 2017: 363ff). Der intensive, ausschließlich exportorientierte Abbau meist nicht erneuerbarer, natürlicher Rohstoffe prägt die wirtschaftliche Struktur vieler Staaten Lateinamerikas und ist unter dem Begriff Extraktivismus bekannt. Svampa (2012: S. 14) definiert Extraktivismus als

„jenes Akkumulationsmodell […], das auf einer übermäßigen Ausbeutung immer knapper werdender, meist nicht erneuerbarer, natürlicher Ressourcen beruht, sowie auf der Ausdehnung dieses Prozesses auch auf Territorien, die bislang als ‘unproduktiv‘ galten”.

Neben Bergbau zählen zu den extraktivistischen Sektoren nach Gudnyas (2011: 70) außerdem die Kohlenwasserstoffe (Gas und Öl) sowie, wenn der Begriff weiter ausgedehnt wird, Exportmonokulturen. Innerhalb eines extraktivistischen Wirtschaftsmodells werden attraktive Rahmenbedingungen für internationale Unternehmen geschaffen, um Auslandskapital anzuziehen. Schließlich profitiert die Regierung von den Abgaben der Unternehmen. Der Gewinn soll gleichmäßig auf die Bevölkerung verteilt werden. Extraktivistisch geprägte Regierungen sehen das Wirtschaftswachstum meist als Entwicklungsmotor an (ebd.). Das auf Rohstoffabhängigkeit basierende Entwicklungsmodell ist voller Spannungen und Widersprüche: Mit der Rohstoffausbeutung gehen immer irreparable Umweltschäden und negative soziale Folgen einher, wie sie auch Jairo Fuentes in La Guajira anklagt. Bevölkerungsgruppen werden durch Landraub von ihren Territorien vertrieben, ihre Lebensgrundlage wird zerstört. Indem ein Zusammenhang zwischen Armutsbekämpfung und Rohstoffabbau hergestellt wird, soll der Rohstoffabbau legitimiert werden (vgl. Matthes 2012: 15, Gudynas 2012: 46). Durch eine Exportorientierung gliedern sich extraktivistisch orientierte Staaten außerdem in die globalisierte Weltwirtschaft ein. Somit wird eine Abhängigkeit der exportorientierten Staaten von der globalen Nachfrage geschaffen. Außerdem sind Exportwirtschaften abhängig von der kontinuierlichen Extraktion von Ressourcen, die jedoch endlich sind. Diese Abhängigkeiten werden besonders dadurch verstärkt, dass extraktivistische Regierungen meist wenig Interesse an einer Diversifizierung der nationalen Ökonomie sowie deren Industrie- und Dienstleistungsgrundlage kundtun (vgl. Gudynas 2011: 72f.). Bereits vor der Kolonialisierung wurde der Ressourcenreichtum Lateinamerikas genutzt. Mit der Kolonialisierung änderte sich jedoch das Ausmaß der Nutzung hin zu einer Ausbeutung der Ressourcen, von der in erster Linie lokale Eliten und externe Akteuren profitierten. Die Rolle Lateinamerikas innerhalb der internationalen Arbeitsteilung als Rohstofflieferant für Europa änderte sich auch nicht mit der Unabhängigkeit in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts (vgl. Lander 2014: 3). Extraktivistische Entwicklungsmodelle fördern neo-koloniale Strukturen, da sie Staaten in untergeordnete Positionen des Weltwirtschaftssystems bringen (vgl. Gudynas 2012: 50). Koloniale Herrschaftsverhältnisse bleiben so weiterhin bestehen. Die investorenfreundliche Politik führt zu einer Re-Kolonialisierung der lokalen Gemeinden und der Natur durch multinationale Unternehmen. Zu beachten ist jedoch, dass der Extraktivismus zwar von lokalen Regierungen ausgeht, jedoch durch die weltweit steigende Nachfrage nach Rohstoffen angetrieben und gesteuert wird. Letztendlich wäre er ohne die „imperiale Lebensweise“ der Wohlstands- und Konsumgesellschaften undenkbar (vgl. Brand, Wissen 2017: 13f.). Nach unseren Besuchen bei den vertriebenen Gemeinden Tamaquito und Roche sowie der Besichtigung des Tagebaus von Cerrejón blieben in unserer Exkursionsgruppe viele unbeantwortete Fragen: Kann es überhaupt einen fairen, gerechten Steinkohlehandel und einen guten Extraktivismus geben? Wie kann sich ein Land wie Kolumbien aus globalen Abhängigkeiten und von kolonialen Herrschaftsverhältnissen befreien? Inwiefern leben wir eine imperiale Lebensweise und welche Alternativen haben wir?

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