Puerto Tejada und die Zuckerrohrindustrie
Puerto Tejada und die Zuckerrohrindustrie
Um zu verstehen, wie es zu den Problemen und Verlusten der örtlichen Bevölkerung kommt, wird dieses Kapitel von dem Einfluss und Effekt der Zuckerrohrindustrie in Puerto Tejada und dem Department Cauca handeln. Der Prozess der Gründung und Konsolidierung der Zuckerrohrindustrie geht bis in das Jahr 1864 zurück, als Santiago Eder die Hacienda (Farm) „La Manuelita“ in Palmira erwarb. Durch die daraufhin entstehenden landwirtschaftlichen und industriellen Aktivitäten bildeten sich feste Handelsketten in der Region (Muñoz & Rojas 2012). Dazu beigetragen haben unterschiedliche Bedingungen, die eine Ausbreitung der Zuckerindustrie gefördert haben: Ein besonderer Vorteil der Cauca-Region ist, dass die geographisch günstigen Konditionen es möglich machen, Zuckerrohr das ganze Jahr über anzubauen, was nur an wenigen Orten der Welt möglich ist (Muñoz & Rojas 2012).
Dies erregte besonders die Aufmerksamkeit der USA nach der kubanischen Revolution 1964. Die Revolution führte zu einem Bruch der USA mit Kuba, welches bis dahin der größte Zuckerrohrlieferant der vereinigten Staaten gewesen war. Daraufhin begannen die USA, Zuckerrohr aus Kolumbien zu beziehen, was die Zuckerindustrie und die Preise für Zuckerrohr enorm ankurbelte. Gleichzeitig führte dies auch zu einer Veränderung der Landnutzung, wodurch Feldfrüchte wie Sojabohnen, Baumwolle, Mais und Bohnen durch den Zuckerrohranbau verdrängt wurden und die kleinbäuerlichen Betriebe ihr Land verloren (Muñoz & Rojas 2012).
Hierbei sollte auch erwähnt werden, dass die damals bestehenden Besitzverhältnisse in der Cauca-Region der Zuckerrohrindustrie den Weg bereitet haben. Seit der Kolonialzeit gehörte Land in dem Department vor allem Großgrundbesitzern, welche überwiegend große Viehzuchtbetriebe, traditionelle Haciendas oder später dann auch Zuckerrohr-Haciendas besaßen. Zum Erfolg und zur Ausweitung der Zuckerindustrie trug also auch die langsame, aber konstante Anhäufung von Land durch Großgrundbesitzer bei, welche mehr und mehr die kleinbäuerlichen Betriebe vom Markt verdrängten und deren Ländereien aufkauften, solange diese überhaupt eigene Landtitel aufweisen konnten (Muñoz & Rojas 2012).
Vor allem in dem südlichen Teil von Caloto und Miranda, zwei Regionen, welche seit der Kolonialzeit durch ehemals versklavte Menschen besetzt worden waren, wurde die afrokolumbianische Bevölkerung verdrängt. Hier hatten sich Menschen, denen die Flucht aus der Sklaverei gelungen war, angesiedelt und sogenannte Palenques errichtet, autonome Gemeinden, in welchen sie gemeinsam Land bestellten. Oft waren diese Bauernhöfe nur auf Subsistenzwirtschaft ausgerichtet, welche zwar prosperierten, aber keinen großen Stellenwert auf den Märkten der Region oder der Nation einnahmen. Da diese ehemals versklavten Menschen aber überwiegend keine Landtitel besaßen, konnten die vom Staat anerkannten Besitzer des Landes dieses an die Großunternehmen und -industrie, vor allem im Sektor Zucker, veräußern, ohne sich mit den dort ansässigen Menschen abzusprechen (Muñoz & Rojas 2012).
So konnten sich immer mehr Unternehmen in der Region niederlassen, Boden für die Zuckerrohranpflanzung aufkaufen und so die ursprünglichen Bewohner*innen immer weiter zurückdrängen. Teilweise wurden sie dadurch sogar in ihrer Nahrungssicherheit bedroht, wie uns beim Besuch des Casa del Niños erzählt wurde.
Durch die kubanische Blockade kam es zu der Möglichkeit, vermehrt in die USA zu exportieren und so zusammen mit dem städtischen und industriellen Wachstum im Land den Zuckermarkt auszubauen. Zwischen 1950 und 1974 stieg damit die Produktion um 275%. 1977 kontrollierten 12 Zuckermühlen, welche vier Familien gehörten, ca. 76% des Zuckermarktes in Kolumbien (Muñoz & Rojas 2012).
Beim Aufbau der Industrie betonten die Unternehmen, dass diese Arbeitsplätze in der Region schaffen und so die dortigen Lebensbedingungen verbessern sollte. Die Einwohner*innen Puerto Tejadas begannen daher teilweise auch freiwillig, ihr Land an die Großunternehmer zu verkaufen und suchten Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen. Allerdings wurden die Bewohner der Region oft als „unqualifizierte Arbeiter*innen“ eingestuft. Wenn es zu Anstellung kam, wurden den lokalen Anwohner*innen oft nur einkommensschwache, nicht qualifizierte Tätigkeiten zugeschrieben, welche überwiegend Lohnarbeit mit prekären Konditionen und wenig sozialen Absicherungen waren. Obwohl es durch das Paéz-Gesetz eine Klausel gab, die vorschrieb, dass mindestens 60% der Angestellten einheimische Arbeitskräfte sein müssen, wurden mehrheitliche nicht-ansässige Arbeitskräfte eingestellt – für administrative und leitende Funktionen vor allem Arbeiter*innen aus Cali. Die Unternehmen trugen dabei lieber die Kosten der Sanktionen, als dem Gesetz Folge zu leisten (Muñoz & Rojas 2012).
Zur Unterstützung der Zuckerindustrie, vor allem auch, um wirtschaftliche Impulse zu generieren, wurden vom Staat Subventionen mit dem Gesetz Paéz (Ley Paéz) von 1995 erlassen. Das Gesetz sollte die Entwicklung der Industrie in der Cauca-Region vorantreiben und den Aufbau von Unternehmen unterstützen. Es sah unter anderem eine Steuersenkung oder nach dem Gesetz 788 von 2002 eine komplette Steuererlassung für Rohrzucker vor. Außerdem wurden Preisstabilisierungsfonds entwickelt, egal, ob die Produkte auf dem nationalen oder internationalen Markt verkauft wurden (Muñoz & Rojas 2012).
Die Kosten für den Ausbau der Infrastruktur und der Anpassung öffentlicher Dienstleistungen mussten allerdings von den lokalen Haushalten getragen werden. Kleinunternehmen, die durch die Zuckerrohrindustrie unter Druck gesetzt wurden, bekamen wenig bis gar keine Unterstützung durch den kolumbianischen Staat zugesprochen (Muñoz & Rojas 2012).
Zusätzlich kam es durch die Ausdehnung des Stadtgebiets von Cali auch zu einem regionalen, politischen und wirtschaftlichen Souveränitätsverlust und die Handelsstrukturen wurden immer abhängiger von den Märkten Calis und den dort generierten Produktpreisen (Agier et al. 1999).
Diese Entwicklung lässt mehrere Konfliktlinien in der nördlichen Cauca-Region erkennbar werden: Die afrokolumbianischen Gemeinden werden Stück für Stück von den Zuckerrohrplantagen und -unternehmen zurückgedrängt und teilweise sogar in ihrer Existenz- und Ernährungssicherheit bedroht. Gleichzeitig erschweren fehlende Landtitel den Kampf gegen die Zuckerindustrie. Unterstützung vom Staat fehlt weitestgehend und Streiks und Proteste der Arbeitnehmer*innen und Anwohner*innen bleiben überwiegend unfruchtbar gegen die übermächtige Großindustrie, welche durch ihr rasantes Wachstum und somit auch wirtschaftliche Bedeutung auch den Staat hinter sich stehen hat. Dazu kommen auch noch weitere Interessenskonflikte in der Region mit anderen ethnischen Gruppen. Dies erschwert ebenfalls, neues Land und Landtitel zu erwerben, selbst wenn das nötige Kapital vorhanden wäre (Muñoz & Rojas 2012).
Allerdings leistet die lokale Bevölkerung Puerto Tejadas trotzdem Widerstand: Sie gründet Gemeinschaften und Produktionsverbände – 2011 schlossen sich sieben Munizipien zusammen, um gemeinsam mit fairer Produktion und Vermarktung eine Preismitbestimmung und Einkommenssicherung zu garantieren. Hierbei geht es vor allem um einen diversifizierten Anbau von Früchten, was ebenfalls als Widerstand gegen die Zuckerrohrmonokultur verstanden werden kann. Durch das Anpflanzen einer einzigen Pflanzenart kommt es zu einer Beeinträchtigung des Klimas und einer Zerstörung des Bodens – wenn allerdings verschiedene Arten von Pflanzen, im besten Falle natürlich auch noch ökologisch, angebaut werden, ist dies sehr viel schonender sowohl für die Böden, als auch für die Wasservorkommen der Region – und somit wichtig für die Gesundheit der Menschen vor Ort. Gleichzeitig ermöglicht eine breite Verkaufsauswahl auch die Chance, dass Einkommen breit zu streuen und so nicht vollkommen von einem Markt abhängig zu sein, wie uns berichtet wurde.
Die Verbände sollen Einkommen generieren und durch bessere Abstimmungen unter den Vereinsmitgliedern somit die Abhängigkeit von Zwischenhändlern aufbrechen. Dadurch liegt die Wertschöpfungskette sehr viel näher bei den Produzent*innen, und diese können so besser über den Preis der Produkte bestimmen, die bisher oft nicht nur vom nationalen Markt, sondern sogar stark vom internationalen Markt mitbestimmt wurden.
Uns wurde von den Mitgliedern des Casa del Niños mitgeteilt, dass für die Schaffung von vernünftigen Preisen und einer guten Produktion von den Bewohner*innen Puerto Tejadas allerdings Unterstützung vom Staat gefordert wird. Dieser stand bisher meistens hinter den Großunternehmern und schenkte den lokalen Kleinunternehmern oft (zu) wenig Aufmerksamkeit.